Lesefrüchte
September 2025
Hier sammeln wir Artikel, die auch über den Tag hinaus interessant sind und zitieren Auszüge. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, verschieben wir ältere Empfehlungen ins „Archiv“.
Lesefrüchte im vergangenen Monat
Viktoria Nikiforowa: Da ist der Kreml baff: NATO eröffnet neue Front – in Brüssel
Fabian Scheidler: Friedenstüchtig werden
Holger Elias: Brorhilker, der Rechtsstaat und wir
Hans Bauer: Nach 35 Jahren Einheit, Großdeutschland auf Kriegskurs – Frieden kein Thema
Viktoria Nikiforowa: Da ist der Kreml baff: NATO eröffnet neue Front – in Brüssel
"Ich werde weder 'ja' noch 'nein' sagen", antwortete der Verteidigungsminister des Landes auf die unverblümte Frage, ob er bis Ende des Jahres Truppen in die Hauptstadt entsenden werde. Ein Mysterium, das selbst einer antiken römischen Sibylle würdig wäre. Doch was genau ist denn in Brüssel los?
Die Sache ist, dass die belgische Hauptstadt, die die Hauptquartiere der NATO und der EU beherbergt, nach den Ergebnissen des Jahres 2024 die traurige Liste der gefährlichsten Großstädte Europas anführt. In einem harten Kampf um den ersten Platz konnte Brüssel sogar Stockholm und Marseille schlagen. Die inoffizielle Hauptstadt der EU brach bei der Zahl der Schießereien und der bei Straßenkämpfen getöteten und verwundeten hilflosen Bürger alle EU-weiten Rekorde.
Etwas … unerwartet, nicht wahr? Bosch und Bruegel, Schokolade und Kirschbier, Till Eulenspiegel und Sahnewaffeln, Manneken Pis – das ist es doch vielmehr, was wir von Brüssel erwarten. Doch hier ist von Brüssel keine Rede mehr – hier ist jetzt Chicago, Baby.
Und obwohl die örtliche Öffentlichkeit die Schießereien noch nicht versteht, und obwohl diese eine Neuheit sind und die Einwohner der Stadt noch nicht den US-amerikanischen Kampfgebiet-Reflex entwickelt haben, sich bei Schüssen zu Boden zu werfen, sind dafür Angriffe mit Klingenwaffen hier seit langem an der Tagesordnung.
"Fast unmöglich: Wie kann Brüssel die Messerangriffe stoppen?", schreit die örtliche Zeitung The Brussels Times zum Himmel. Tatsächlich ist es die Millionenfrage. In diesem Jahr verging keine einzige Woche, ohne dass die Presse über Messerangriffe mit Verletzten und Toten berichtete.
Niedergestochen wurden die Menschen bei Demonstrationen zur Unterstützung Palästinas, beim Spazierengehen im Park, an Springbrunnen, vor dem Schönheitssalon, einzeln und in Massen, am helllichten Tag und in der Dämmerung. Nur wenige überlebten. Das Leben in Brüssel ist ein Wirbelwind – nein, ein ausgewachsener Tsunami.
Und wie die Lokalpresse über Stechereien und Schießereien berichtet, ist geradezu rührend: Da werden mysteriöse, drogenhandelnde Verbrecherbanden für die Schießereien verantwortlich gemacht, und für die Messerangriffe – ein Trend, der aus England nach Europa kam – sollen irgendwelche Jugendlichen verantwortlich sein, die in den "Arbeitervororten" leiden.
Keine Scham, kein Gewissen: Polizei, Richter, Journalisten und Politiker winden sich alle wie die sprichwörtlichen Aale und versuchen tunlichst, die Dinge nicht beim Namen zu nennen. Der springende Punkt ist, dass Anwohner und Touristen von Menschen aus den riesigen ethnischen Ghettos terrorisiert werden, die wie ein tosender Ozean das Zentrum Brüssels umgeben.
Selbst vor zehn Jahren war der Kontrast schon frappierend: Man macht ein Foto in der Nähe des Brüsseler Rathauses – Brabanter Gotik und all so etwas, wunderschön –, man läuft dann buchstäblich dreihundert Meter zur Börse – und auf der anderen Straßenseite beginnt bereits "1000 und eine Nacht": Frauen in schwarzen Gewändern bis zu den Augen, Cafés nur für Männer, Stände und Geschäfte nur für … *hust* "Einheimische". Eine andere Zivilisation, ein anderes Leben – es ist, als wäre man plötzlich vom 21. Jahrhundert ins Mittelalter getreten.
Und über Viertel wie Molenbeek und Anderlecht braucht man erst recht nicht sprechen: Das sind ethnische Ghettos voller Krimineller und Terroristen, die der Fuß eines örtlichen Polizisten nie betritt.
Belgiens Öffentlichkeit vermeidet um jeden Preis die politisch unkorrekten Begriffe "Migranten", "Illegale", "Afrikaner" und "Araber" – schlägt jedoch zumindest, wenn auch zaghaft, eine kleine Gehaltserhöhung für Polizisten vor. Aber nein, die EU-Hauptstadt hat andere Prioritäten: Das ganze Geld muss nach Kiew fließen, und die Brüsseler werden schon irgendwie ohne zurechtkommen.
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Fabian Scheidler: Friedenstüchtig werden
Multipolar veröffentlicht Auszüge, hier eine Kostprobe davon
Für eine Konfliktlösung ist es entscheidend, Verstehen und Legitimieren auseinanderzuhalten. Wer sich weigert, die Geschichte zur Kenntnis zu nehmen und die Motive der Akteure zu verstehen, beraubt sich jeder Möglichkeit, die Wurzeln des Konfliktes anzugehen und langfristigen Frieden zu schaffen. Fabian Scheidler blickt in seinem neuen Buch „Friedenstüchtig“ auch zurück auf historische Bemühungen eine Friedensordnung zu schaffen.
Ein deutscher Kindergarten im Jahr 2025 : In der Mittagspause streift das Gespräch zwischen einem Erzieher und einer Erzieherin den Ukrainekrieg. Der Erzieher bemerkt beiläufig, dass dieser Krieg auch eine lange Vorgeschichte habe, ohne näher darauf einzugehen. Darauf nimmt die Kollegin ihn beiseite und sagt : „So etwas darfst du hier unter den anderen Kollegen auf keinen Fall sagen!“ Diese Anekdote ist nicht erfunden, sie stammt aus meinem Freundeskreis. Die bloße Erwähnung, dass es eine Vorgeschichte gibt, ist in einem deutschen Kindergarten bereits eine Tabuzone. Also schweigt man lieber darüber.
Die Ausblendung der Vergangenheit gehört zu den destruktivsten Aspekten der Kriegslogik. Die Vorgeschichte eines gewaltsamen Ereignisses zu erzählen, wird oft unter den Generalverdacht gestellt, die Gewalt zu rechtfertigen. Wer etwa die wenig ruhmreiche Rolle des Westens bei der Genese des Ukrainekrieges erwähnt, wird rasch verdächtigt, den russischen Einmarsch zu legitimieren oder zu verharmlosen. Das gilt auch für Gaza : Wer die Geschichte nicht erst am 7. Oktober 2023 beginnen lässt, sondern mit der 16-jährigen Blockade der Küstenenklave oder noch früher, setzt sich leicht dem Vorwurf aus, Hamas-Narrative zu verbreiten. Ursachenanalyse wird so zum Verrat.
Es ist aber für jede Konfliktanalyse und Konfliktlösung von entscheidender Bedeutung, Verstehen und Legitimieren strikt auseinanderzuhalten. Wer sich weigert, die Geschichte zur Kenntnis zu nehmen und die Motive der Akteure zu verstehen, beraubt sich jeder Möglichkeit, die Wurzeln des Konfliktes anzugehen und langfristigen Frieden zu schaffen. (…) Trotzdem haben wir es im Lauf der letzten Jahre vermehrt mit simplifizierenden Deutungen zu tun (...). Ja, mehr noch : Wir erleben eine regelrechte Kampagne gegen Differenzierung und komplexes Denken. Wer es wagt, von dem Hollywood-Schema eines absolut Guten und absolut Bösen abzuweichen, wird rasch verdächtigt, in Wahrheit Parteigänger des Feindes zu sein.
Um aber Auswege aus einem sich aufschaukelnden Konflikt zu finden, ist eine differenzierte Analyse der Entstehungsgeschichte unabdingbar. Handelt es sich um einen Krieg, der in ein nukleares Inferno münden könnte, ist sie sogar überlebenswichtig. (…) Die zentrale These dabei lautet, dass die Feinde, die wir bekämpfen, zu einem großen Teil von uns selbst geschaffen wurden. Mit anderen Worten : Nicht nur waren die Antworten auf die Ereignisse falsch, die Ereignisse selbst waren auch vermeidbar. (...)
Das bedeutet nicht, dass nicht auch die jeweils andere Seite schwerwiegende, ja verhängnisvolle Fehler begangen haben kann. Bei Konflikten kann es mehrere Schurken im Raum geben. Doch an den Fehlern der anderen kann man bekanntlich weniger ändern als an den eigenen. Für die Bürger westlicher Staaten muss das Verhalten der eigenen Regierungen im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen, denn nur auf diese Regierungen können sie ernsthaft Einfluss nehmen, nur diese Regierungen sind ihnen gegenüber rechenschaftspflichtig. Wer wirklich Frieden will, kann sich nicht damit begnügen, mit dem Finger auf andere zu zeigen, er muss damit beginnen, den eigenen Anteil am Konflikt zu bearbeiten.
Eine Welt voller Feinde (...)
Holger Elias: Brorhilker, der Rechtsstaat und wir
Es ist ein Bild von bizarrer Eleganz und leiser Verzweiflung zugleich: Eine Frau mittleren Alters, einst die mächtigste Ermittlerin gegen Finanzkriminalität in Deutschland, streicht dem Staat den Gehorsam – nicht mit einer Protestnote, sondern mit der Kündigung. Anne Brorhilker, die Chefermittlerin im Kölner Cum-Ex-Komplex, quittiert 2024 ihren Dienst, verzichtet auf Pensionsansprüche, Rang und Einfluss – und beginnt neu. Als Aktivistin. Als Mahnerin. Als Zeugin gegen einen Staat, der gegen seine Feinde nach unten Härte zeigt und nach oben Schwäche.
Es ist eine biografische Geste von Gewicht, die weit über individuelle Motive hinausweist: Brorhilkers Rückzug wird zum Menetekel für einen Rechtsstaat, der mit systematischem Steuerraub konfrontiert ist – und kapituliert. Nicht an der Front, sondern in der Etappe. Nicht durch äußere Gewalt, sondern durch inneres Zögern, strukturelles Wegsehen, politisches Verschleppen.
Was hier zutage tritt, ist keine Affäre im klassischen Sinne. Es ist ein Systemfehler. Die Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte waren keine kriminellen Ausreißer – sie sind das Resultat einer Ordnung, die den Finanzmarkt als sakrosankten Raum behandelt, in dem Geld zirkuliert, als wäre es jenseits von Moral, Recht und demokratischer Kontrolle. Vorsichtige Schätzungen gehen bei »Cum-Ex« von mehr als zehn Milliarden Euro Verlust für den Staat aus, durch »Cum-Cum« kommen noch einmal bis zu 28,5 Milliarden hinzu. Eine Zahl, bei der Haushaltsausschüsse blass werden – und Staatsanwälte offenbar nervös.
Dass es überhaupt zu Verurteilungen kam, ist nicht dem entschlossenen Handeln der Behörden zu verdanken, sondern dem hartnäckigen Drängen einzelner – wie Brorhilker. Doch genau das offenbart das Dilemma: Die Justiz hat zwar formell Unabhängigkeit, doch materiell oft nichts außer Überlastung, politischer Gängelung und der Gewissheit, dass bei Geld die Spielräume enger werden. Die Ermittlungen in Köln führten zu 1700 Beschuldigten. Was daraus wurde? Verfahren, Deals, Rückzüge. In einem Fall wurde der Täter zum Gutachter für die nächsten Fälle. Eine Farce im Maßanzug.
Dabei ist das zentrale Problem nicht, dass Recht gebrochen wurde – sondern dass es gestaltet wurde, um das Brechen des Rechts zu ermöglichen. Cum-Ex, das war keine Lausbüberei. Es war eine komplexe juristische Konstruktion, abgesegnet von Gutachtern, flankiert von Anwaltskanzleien, profitabel gemacht durch politische Wegschaukunst und steuertechnischen Eigensinn. Einer der Hauptprofiteure, Hanno Berger, ließ sich von Professor Joachim Englisch ein Gutachten anfertigen, um den Inhalt in juristischen Fachzeitschriften zu publizieren und die Rechtsmeinung in seinem Sinne zu beeinflussen. In gewisser Weise war das legal – aber in moralischem Sinne war es exakt das, was Adorno einst die »Verluderung des Geistes durch die Verhältnisse« nannte.
Kundschafter der DDR:
Hans Bauer: Nach 35 Jahren Einheit, Großdeutschland auf Kriegskurs – Frieden kein Thema
Artikel von Redaktion am 3 Oktober 2025, 8:07
Am 3. Oktober 2025 gedenkt Deutschland der staatlichen Vereinigung. Eingeläutet mit einer Entschließung des Bundesrates auf seiner Sitzung am 26. September. Herausforderung seien „Nationale Kraftanstrengung, Modernisierung auf allen Ebenen, Auseinandersetzung mit der Geschichte“. Von der deutschen Einheit zur Einheit Europas, heißt es.
Gleiche Beschwörungen zur Einheit werden in den nächsten Wochen folgen. Tatsächlich kann von Einheit keine Rede sein. Weder in Europa noch in Deutschland. Unser staatlich vereintes Land ist nämlich zutiefst gespalten, nicht nur Ost-West, Oben-Unten, Arm-Reich. Gespalten vor allem zwischen Kriegstüchtigen und Friedenswilligen.
Mehr als bezeichnend, dass der Bundesrat das Wort „Frieden“ vermissen lässt. Nicht ein einziges Mal wird in der Entschließung von der Herausforderung zum Frieden gesprochen. Dabei hätte es ohne Bekenntnis Deutschlands zum Frieden die Einheit nicht gegeben.
Voraussetzung und maßgeblich für den „Einigungsvertrag“ war der von beiden deutschen Staaten und den vier alliierten Mächten geschlossene „Zwei-plus-Vier-Vertrag“. Eigentlich ein Grundlagenvertrag. In ihm erklärten sich die Parteien bereit, „die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland zu vereinbaren“. Kernaussage dieses Vertrages war die Verpflichtung und Selbstverpflichtung des geeinten Deutschlands, „als gleichberechtigtes und souveränes Glied … dem Frieden der Welt zu dienen“. Und „dass von deutschem Boden nur Frieden ausgehen wird“. In diesem Sinne wurde das Anliegen bekräftigt durch konkrete Auflagen, Gebote, Verbote, u.a. zur Bundeswehr, zu ABC-Waffen, zum DDR-Territorium.
Was ist heute, 35 Jahre später, aus Geist und Buchstabe dieses Vertrages und seiner Verpflichtung zum Frieden geworden?
Vom Wesensgehalt des „2+4-Vertrages“ ist wenig übrig geblieben. Für Deutschlands Politik sind die Vereinbarungen ebenso wenig bindend wie Verpflichtungen in Grundgesetz und Einigungsvertrag:
● Rüstungsboom, Militarisierung und Aufrüstung beherrschen das Land,
● Waffenlieferungen in Krisen- und Kriegsgebiete,,
● die Bundeswehr wird stärkste konventionelle Armee Europas,
● für 2026 Stationierung weitreichender Mittelstreckenraketen,
● Streben nach Atomwaffen,
● Wehrdienst und Wehrpflicht werden geplant,
● Verletzung von Verpflichtungen zu ostdeutschem Territorium,
● Feindschaft gegen andere Völker in Politik und Medien.
Allein die Aussagen von Wadephul und Merz zum „Feind“ Russland und die Aufrüstung gegen Russland sowie die Unterstützung eines Genozids im Nahen Osten widersprechen historischer Verantwortung und vertraglicher Verpflichtung. Die gesellschaftliche Atmosphäre im Lande entspricht diesem Kurs.
Vision und Hoffnung auf ein Deutschland des Friedens waren Illusion. Für die Herrschenden ist dieser Traum der Menschen sogar so unwichtig, dass er noch nicht einmal mehr einer Erwähnung bedarf. Wie der Bundesrat bewies. Und Merz bekanntlich Frieden auf jedem Friedhof verspricht. Etwa als Opfer seines Krieges?
Nein, angesichts dieser unmenschlichen und volksfeindlichen Politik müssen unsere Forderungen und Aktionen noch zwingender werden. Der Kampf um einen gerechten Frieden zum Wohl aller Menschen und Völker muss in der gegenwärtigen Situation absoluten Vorrang haben. Die mächtigen Demonstrationen in diesen Tagen geben neue Hoffnung und Kraft.